Thiamin oder Vitamin B1 ist ein wasserlösliches Vitamin und gehört zum Vitamin B-Komplex. Da der menschliche Organismus Thiamin nicht selber bilden und nur in geringen Mengen über kurze Zeit speichern kann, müssen wir den essentiellen Biofaktor regelmäßig über unsere Ernährung aufnehmen. Generell ist in Deutschland bei gesunden Menschen, die sich ausgewogen ernähren, eine ausreichende Thiamin-Zufuhr gewährleistet. Dennoch erreichen 21 % der Männer und sogar 32 % der Frauen die empfohlene Tageszufuhr nicht1. Zudem haben Diabetiker und Menschen mit hohem Alkoholkonsum einen deutlich höheren Thiamin-Bedarf.
Laut Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) benötigen gesunde Personen folgende Mengen des Biofaktors Thiamin :
Männer (19 – 24 Jahre) | 1,3 mg/Tag |
Männer 25 – 65 Jahre | 1,2 mg/Tag |
Männer über 65 Jahren | 1,1 mg/Tag |
Frauen ab 19 Jahren | 1,0 mg/Tag |
Schwangere (2. Trimester) | 1,2 mg/Tag |
Schwangere (3. Trimester) | 1,3 mg/Tag |
Stillende | 1,3 mg/Tag |
Laut der Nationalen Verzehrsstudie II (NVSII, 2008) liegt die mittlere tägliche Zufuhr von Thiamin bei Männern bei 1,6 mg und bei Frauen bei 1,2 mg und somit über den Empfehlungen der DGE.
Bei den Frauen nimmt der Anteil derer, die den empfohlenen Referenzwert nicht erreichen, mit dem Alter zu. 25 % der 14- bis 18-Jährigen erreichen den Referenzwert nicht, bei den 65- bis 80-Jährigen sind es sogar 40 %. Bei den Männern hingegen ist der Anteil in allen Altersstufen gleich.
Das Bundesamt für Risikobewertung (BfR) schätzt das gesundheitliche Risiko bei Verwendung von Thiamin-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln bzw. Thiamin-angereicherten Lebensmitteln als gering ein. Auch in Mengen weit oberhalb der Zufuhrreferenzwerte wurden bislang keine nachteiligen Gesundheitseffekte beobachtet. Aus diesem Grund hat man auf eine gesetzlich festgelegte Thiamin-Höchstmenge in Nahrungsergänzungsmitteln und angereicherten Lebensmitteln verzichtet4.
Bei einem nachgewiesenen Thiamin-Mangel, beispielsweise bei Diabetes mellitus oder verursacht durch chronischen Alkoholabusus, kann die therapeutische Zufuhr des Biofaktors um ein Vielfaches höher liegen als von der DGE empfohlen.
Die möglichen Ursachen für einen Thiamin-Mangel sind sehr vielfältig. Die Unterversorgung kann zum einen durch eine verminderte Thiamin-Aufnahme über die Ernährung, vor allem bei Reduktionsdiäten und Essstörungen, bedingt sein. Zum anderen steigt in bestimmten Lebenssituationen der Thiamin-Bedarf an. So benötigen schwangere und stillende Frauen mehr Thiamin. Auch Leistungssportler und Menschen, die körperlich schwer arbeiten, haben aufgrund ihres erhöhten Stoffwechsels einen höheren Bedarf des Biofaktors. Patienten, die sich einer Hämodialyse unterziehen müssen, haben ebenfalls einen erhöhten Bedarf, da das Thiamin bei der Dialyse größtenteils aus dem Blut gefiltert wird.
Die Einnahme von Diuretika („Entwässerungstabletten“) erhöht die Thiamin-Ausscheidung über die Nieren. Insbesondere bei älteren Menschen, die bereits durch eine eingeschränkte Ernährung zu wenig Thiamin aufnehmen, kann sich eine zusätzliche Diuretika-Zufuhr negativ auswirken.
Zudem kann die Thiamin-Resorption über den Darm vermindert sein, z.B. bei chronischen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und Zöliakie oder nach Darmteilentfernungen oder -operationen.
Zu den wichtigsten Risikogruppen allerdings zählen Diabetiker und Menschen mit Alkoholabusus. Diabetiker benötigen deutlich mehr Thiamin, da sie zum einen aufgrund des erhöhten Blut-Glukosespiegels einen erhöhten Bedarf haben und zum anderen vermehrt Thiamin über die Nieren ausscheiden. Auch ein chronischer Alkoholabusus führt zu einem erhöhten Thiamin-Bedarf, verursacht durch Leberschäden und eine erhöhte Ausscheidung über die Nieren.
Der Biofaktor Thiamin ist als Coenzym an vielen Reaktionen im Kohlenhydratstoffwechsel beteiligt. Für die Energiegewinnung aus Kohlenhydraten benötigt der Organismus ausreichend Thiamin. Im Organismus kommt es überwiegend in gebundener Form als Thiaminpyrophosphat (TPP) – auch Thiamindiphosphat (TDP) genannt – vor.
Der essentielle Biofaktor gilt als „Nervenvitamin“. Der Grund: Die Energiegewinnung in den Nervenzellen erfolgt hauptsächlich durch einen Abbau von Glukose. Gehirn und Nervenzellen sind also auf Energie aus Kohlenhydraten angewiesen. Daher ist eine ausreichende Versorgung mit Thiamin für die gesunde Funktion der Nerven unerlässlich.
Die Umwandlung in TPP wird durch ein bestimmtes Enzym, die Thiaminpyrophosphatase katalysiert, dessen Cofaktor Magnesium ist. Verschiedene Studien zeigten, dass eine alleine Thiaminsupplementation bei vorliegendem Magnesiummangel die neurologischen Beschwerden nicht besserte, sondern eine begleitende Magnesiumsupplementation notwendig war. Bei Vorliegen einer Hypomagnesämie (<0.76 mmol Mg/L) ist daher die zusätzliche Gabe von Magnesium indiziert5,6.
Aufgrund seiner physiologischen Bedeutung für den Kohlenhydratstoffwechsel führt ein Thiamin-Mangel zu Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels. Insbesondere die Organe, die zur Energiegewinnung Glukose verbrauchen – Nervensystem und Muskulatur, auch die Herzmuskulatur – leiden unter einem Mangel des Biofaktors. Zunächst kommt es zu einem subklinischen Vitamin B1-Mangel, der sich durch unspezifische Symptome wie Muskelschwäche und verminderte Leistungsfähigkeit sowie erhöhte Reizbarkeit und leichte Depressionen zeigt.
Da der Organismus nur geringe Mengen Thiamin und diese nur kurze Zeit speichern kann, kann es schnell zu einem manifesten Mangel des Biofaktors kommen. Dieser zeigt sich durch periphere Neuropathien mit Empfindungsstörungen v. a. in den Füßen, wie Kribbeln, Brennen und Taubheitsgefühl, sowie neuropathischen Schmerzen. Insbesondere Diabetiker entwickeln eine diabetische Neuropathie mit der Gefahr eines diabetischen Fußsyndroms7.
Weiterhin kann es zu zerebralen Störungen mit Schwindel, Gangunsicherheit, Bewusstseinsstörungen sowie Schlaflosigkeit und Leistungsschwäche kommen. Typisch sind auch kardiovaskuläre Störungen, insbesondere Herzrhythmusstörungen und Herzinsuffizienz sowie Störungen im Magen-Darm-Trakt mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Es kann außerdem zu Muskelschwäche, Muskelschmerzen und Muskelkrämpfen kommen.
Ein durch chronischen Alkoholabusus verursachter Thiamin-Mangel ist das Wernicke-Korsakow-Syndrom. Diese Erkrankung zeigt sich mit Pupillenstörungen, Nystagmus (unkontrollierbare, rhythmische Augenbewegungen) und Augenmuskellähmung. Weiterhin kommt es zu zerebellärer Ataxie (durch Kleinhirnfunktionsstörung verursachte Stand- und Gangunsicherheit), Verwirrtheitszuständen und Bewusstseinseintrübungen bis hin zum Koma.
Beri-Beri, die klassische Vitamin B1-Mangel-Krankheit, tritt heute weitgehend nur in Ländern der Dritten Welt aufgrund der einseitigen Ernährung mit geschältem Reis als Hauptnahrungsmittel auf. Man unterscheidet die sogenannte „trockene“ Beri-Beri mit neuropathischen und zerebralen Störungen von der „feuchten“ oder „nassen“ Form, bei der es zu einer Herzinsuffizienz mit Ödemen und Atembeschwerden kommt.
Thiamin ist in Lebensmitteln tierischen und pflanzlichen Ursprungs enthalten. Unter den Lebensmitteln tierischen Ursprungs sind vor allem Schweinefleisch, Leber und einige Fischsorten wie Thunfisch, Scholle und Lachs gute Thiamin-Lieferanten. Bei den Lebensmitteln pflanzlichen Ursprungs enthalten Hefe, Hülsenfrüchte, Nüsse, Vollkorngetreide, Kartoffeln und Spargel ausreichende Mengen des Biofaktors.
Allerdings reagiert Vitamin B1 sehr empfindlich auf Hitze, weshalb der Thiamin-Gehalt durch Erhitzen und Kochen der Lebensmittel um bis zu 30 % abnehmen kann. Thiamin ist wasserlöslich, wodurch beim Kochen ein Teil ins Kochwasser verloren geht. Auch durch falsche Lagerung der Lebensmittel wird der Thiamingehalt reduziert, da der Biofaktor empfindlich auf Sauerstoff und UV-Einfluss reagiert. Zudem hemmen bei Lebensmitteln schwarzer Tee und bei Arzneimitteln Antazida die Thiamin-Aufnahme über die Nahrung.
Der Biofaktor Thiamin wird im Dünndarm über zwei verschiedene Mechanismen resorbiert. 5 bis 10 mg Thiamin können über einen aktiven Prozess mit Hilfe eines Thiamin-Transporters resorbiert werden. Bei höheren Dosierungen kommt es zu einer passiven Diffusion des wasserlöslichen Vitamin B1, wobei über diesen Prozess jedoch deutlich weniger Thiamin aufgenommen werden kann. Aufgrund der begrenzten Bioverfügbarkeit wird Thiamin daher im therapeutischen Dosisbereich häufig durch Benfotiamin, eine fettlösliche Vorstufe von Thiamin, ersetzt. Eine klinische Studie konnte nachweisen, dass Benfotiamin 5-mal besser vom Körper aufgenommen wird als „einfaches“ Thiamin8,9. Durch seine lipidlöslichen Eigenschaften gelangt Benfotiamin auch ohne Transporter direkt in die Zelle und wird dort in seine biologisch aktive Form, das Thiamindiphosphat, umgewandelt.
Therapeutisch werden Thiamin bzw. Benfotiamin vor allem bei Neuropathien (Nervenschäden) infolge eines Vitamin-B1-Mangels eingesetzt. Insbesondere Diabetiker haben ein erhöhtes Risiko für einen Vitamin B1-Mangel. Bei erhöhtem Blutzuckerspiegel steigt der Vitamin B1-Bedarf, zudem erhöht sich bei Diabetikern die Ausscheidung von Vitamin B1 über die Nieren auf das 3- bis 4-Fache. Anhand einer Studie konnte gezeigt werden, dass der Thiamin-Blutplasmaspiegel bei Diabetikern um durchschnittlich 75 % niedriger ist als bei Nicht-Diabetikern10. In der Folge des Thiamin-Mangels werden Kohlenhydratstoffwechsel und Energiegewinnung aus Glukose gestört, was zu einer Nervenschädigung führt. Um Neuropathien in Folge eines Vitamin B1-Mangels auf oralem Weg zu behandeln, wird in der Regel das besser bioverfügbare Benfotiamin angewendet, das in Studien auch zu einer Linderung der neuropathischen Symptome wie Missempfindungen, Taubheitsgefühle und Schmerzen in den Füßen führte11.
Auch bei Menschen mit chronischem Alkoholabusus gilt Vitamin B1-Mangel als häufigste Ursache einer Polyneuropathie mit Nervenschäden. Eine Studie zeigte, dass diese Patienten ebenfalls von einer Thiaminsubstitution mittels Benfotiamin profitieren konnten12. Hochdosierte Thiamin-Gaben sind in der Therapie der Wernicke-Enzephalopathie lebensrettend.
Eine aktuelle Publikation fasst verschiedene Untersuchungen aus tierexperimentellen Studien und kleineren Interventionsstudien an Patienten mit Morbus Alzheimer zusammen und zeigt vielversprechende neuroprotektive Wirkungen einer hochdosierten Benfotiamin-Therapie (z.B. 600 bis 900 mg pro Tag)13,14. Der Krankheitsverlauf konnte verlangsamt und die kognitive Funktion durch Benfotiamin verbessert werden.
Eine Vitamin B1-Überdosierung durch eine übermäßige Aufnahme über Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel ist nicht bekannt. Nach längerer oraler Einnahme extrem hoher Dosen von mehr als 3 Gramm pro Tag kann es in Einzelfällen zu Nebenwirkungen (Schwitzen, Herzrasen, Kopfschmerzen, Benommenheit sowie Juckreiz und Nesselsucht an der Haut) kommen15.